Hat sich der Prophet ﷺ mit dem Westen befasst?
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In den vorherigen Blog-Beiträgen habe ich meine persönlichen Beweggründe dargelegt, warum ich ein Buch über die (Ideen-)Geschichte des Westens verfasst habe. Doch persönliche Motive sind natürlich kein Maßstab dafür, ob etwas im Islam erlaubt oder verboten ist. Daher stellt sich die Frage: Sollten Muslime ihre Zeit darauf verwenden, sich mit der europäischen Geschichte, ihren Denkern und Philosophien auseinanderzusetzen, oder genügt es, sich ausschließlich mit Koran und Sunna zu befassen?
Bekanntermaßen existierte "der Westen" zur Zeit des Gesandten Allahs ﷺ noch nicht. Es gab lediglich das West- und das Oströmische Reich. Wenn in den Hadithen und Sira-Werken von den Römern die Rede ist, sind damit die Byzantiner des Oströmischen Reiches gemeint. Zum Weströmischen Reich, das sich über weite Teile Europas erstreckte, hatten die Muslime zu dieser Zeit keine Berührungspunkte. Erst mit der Eröffnung der Iberischen Halbinsel (Spanien/Portugal) zu Beginn des 8. Jahrhunderts kam es zu Kontakten. Begriffe wie Säkularismus oder Liberalismus entstanden zudem erst viele Jahrhunderte später.
Der Koran und die Sunna thematisieren Begriffe wie schirk (Beigesellung), kufr (Unglaube) und fisq (Frevel), nicht jedoch moderne Konzepte wie Säkularismus und Liberalismus. Sollte man sich als Muslim daher nicht mit dem Wissen über diese Begriffe zufriedengeben? Es besteht immerhin kein Zweifel, dass das Wissen durch die Offenbarung für einen Muslim ausreicht, um Rechtleitung zu erfahren und zu wissen, was im Islam erlaubt und was verboten ist. Einer der Beweise hierfür lautet:
Genügt es ihnen denn nicht, daß Wir das Buch auf dich hinabgesandt haben, das ihnen verlesen wird? Darin ist wahrlich eine Barmherzigkeit und eine Ermahnung für Leute, die glauben. (Sure 29, Vers 51)
Die Erklärung (tafsir) dazu lautet, dass der Koran ein Beweis für das Prophetentum von Muhammad ﷺ darstellt, da es Wissen enthält, das ihm als gewöhnlicher Mensch auf der Arabischen Halbinsel nicht zugänglich wäre. Dieses Wissen beinhaltet eine Darlegung der Wahrheit und eine Entkräftung der Falschheit (vgl. Tafsir Ibn Kathir zu Q:29/51).
Es wäre aber zu oberflächlich gedacht, wenn man den Gedanken hier beenden würde. Und damit meine ich weder, dass die Offenbarung noch die Gelehrten oberflächlich wären, sondern diejenigen, die weder die Offenbarung noch die Gelehrten so verstanden haben, wie es ihnen gebührt. Hierzu ein Beispiel:
Wie jeder Muslim weiß, ist es verboten im Islam, Alkohol zu trinken, da Allah im Koran ausdrücklich erwähnt:
O die ihr glaubt, berauschender Trank (khamr), Glücksspiel, Opfersteine und Lospfeile sind nur ein Greuel vom Werk des Satans. So meidet ihn, auf daß es euch wohl ergehen möge! (Sure 5, Vers 90)
Wie verhält es sich nun bei Drogen wie Marihuana oder Cannabis? Es gibt keinerlei Erwähnung dieser Drogen in den Offenbarungstexten. Stattdessen finden wir den Hadith des Propheten ﷺ:
„Alles Berauschende (muskir) ist khamr und alles Berauschende ist verboten...“ [Sahih Muslim, Nr. 2003]
كُلُّ مُسْكِرٍ خَمْرٌ وَكُلُّ مُسْكِرٍ حَرَامٌ
Die Aufgabe der Gelehrten liegt darin, dieses Verbot auf all die Dinge anzuwenden, deren Realität dem Kriterium des Berauschenden entspricht. Sprich: Der Gelehrte muss sich damit auseinandersetzen, was Substanz X oder Y ist bzw. welche Wirkung sie hat, um bewerten zu können, ob sie unter das Verbot von Berauschendem fällt. Ohne diese Untersuchung oder die Konsultation von Experten in diesem Bereich würde ihn sein Wissen über den Koran und die Sunna nicht weit bringen. Denn die Offenbarung muss auf die Realität angewendet werden, die man hierzu kennen und verstehen muss.
Ähnlich verhält es sich mit dem westlichen Weltbild. Natürlich könnte man sich damit begnügen, alles "Westliche" abzulehnen, weil es nicht von Allah und Seinem Gesandten erwähnt wird. Doch dies hätte zur Konsequenz, weit mehr als nur politische Philosophien dieses Weltbildes abzulehnen. Würde man etwa Computer, Smartphones und jede mathematische Formel, die von einem Westler entwickelt wurde, ablehnen, weil sie nicht der Offenbarung entnommen werden können? Wohl kaum. Hier ist Differenzierung notwendig, denn nicht alles kann als "westlich" gebrandmarkt werden, nur weil es aus der westlichen Welt stammt – genauso wenig, wie alles aus der muslimischen Welt per se "islamisch" ist. Ein Hugo-Boss-Parfüm ist daher kein „westlicher“ Duft, während arabische Parfüms (bzw. Öle) nicht per se „islamische“ Düfte darstellen. Am Beispiel des Vorgehens der Gefährten (sahaba) des Propheten ﷺ lässt sich diese Differenzierung besser nachvollziehen:
Als das Territorium der Muslime während der Amtszeit des zweiten Kalifen Umar ibn al-Khattab erheblich anwuchs, stand die Regierung vor großen administrativen Herausforderungen. Je mehr Menschen Teil des islamischen Staates wurden, desto schwieriger wurde es Ein- und Ausgaben des Staatshaushaltes zu verwalten. Deshalb bediente sich Umar des sogenannten Diwan (Verwaltungsregister) der Perser [vgl. hierzu: al-Mawardi, al-Ahkam as-sultaniya, Kapitel 18 (Über die Einrichtung des Diwans und die Erläuterung seiner Rechtssprüche)]. Die Perser dieser Zeit waren vom Glauben her Zoroastrier (majus), doch hinderte dies Umar nicht daran, ihren Diwan für seine Zwecke zu verwenden. Hätte er eine oberflächliche Sichtweise gehabt, so hätte er es nicht übernommen, weil es nicht im Koran oder der Sunna erwähnt wird. Was aber sehr wohl in der Sunna erwähnt wird, ist der Hadith des Propheten ﷺ:
„Der Imam ist ein Hüter über die Menschen und er ist für seine Herde verantwortlich.“ [Sahih al-Bukhari, Nr. 7138 & Sahih Muslim, Nr. 1829]
فَالإِمَامُ الَّذِي عَلَى النَّاسِ رَاعٍ وَهْوَ مَسْئُولٌ عَنْ رَعِيَّتِهِ
Der Imam steht hier für das Staatsoberhaupt der Muslime (auch Kalif genannt), das den Menschen vorsteht, um sich um ihre Angelegenheiten zu kümmern. Es ist seine Verantwortung, alle Anstrengungen zu unternehmen, um die Interessen seiner Bürger zu gewährleisten, die ihnen durch das islamische Recht zugesprochen wurden. Was notwendig ist, um diese Bedürfnisse zu erfüllen, unterscheidet sich je nach Ort und Zeit.
Beispielsweise nutzen Menschen heute in vielen Teilen der Welt Waschmaschinen, um ihre Kleidung zu reinigen, und Kühlschränke, um Lebensmittel zu lagern. Dafür bedarf es eines Zugangs zu Wasser und Elektrizität, was eine entsprechende städtebauliche Infrastruktur erfordert. Im Fall von Wasser umfasst dies Quellen und Brunnen zur Wassergewinnung, Anlagen zur Entnahme von Wasser aus Flüssen oder Seen, Entsalzungsanlagen, Stauseen (zur Regulierung des Wasserflusses und Speicherung großer Wassermengen), Leitungsnetze, Pumpstationen, Wasseraufbereitungsanlagen, Kanalisationssysteme, Kläranlagen und Drainagen (zum Schutz vor Überschwemmungen).
Der Anspruch auf solche Ressourcen wird durch den Hadith des Gesandten Allahs ﷺ begründet, in dem er sagte:
„Die Muslime sind Teilhaber in drei Dingen: Im Wasser, im Weideland und im Feuer.“ [Sunan Abi Dawud, Nr. 3477 (Albani: Sahih)]
اَلْمُسْلِمُوْنَ شُرَكَاءُ فِي ثَلاَثٍ فِي الْكَلإِ وَالْمَاءِ وَالنَّارِ
Ein weiterer Hadith berichtet, dass der Gesandte ﷺ einem Mann ein Salzgebiet zuwies, als dieser darum bat. Nachdem er jedoch darüber informiert wurde, dass es sich um eine nicht versiegende (also große) Quelle handelte, nahm er es dem Mann wieder weg. [Ibn Maja, Nr. 2475 (Albani: Hasan)]
Das bedeutet, Ressourcen, die der Allgemeinheit gehören, dürfen nicht privatisiert werden, sondern müssen allen zur Verfügung stehen. [vgl. as-Sarkhasi, al-Mabsut, 16/33 (Kapitel: Über mangelhafte Mietverträge); Abu Ubaid, al-Amwal, S. 354 (Kapitel: Über Landzuweisungen)] Dafür wiederum müssen diese Ressourcen den Bürgern irgendwie bereitgestellt werden. Und diese Verantwortung liegt zweifelsohne beim Imam und nicht bei den Bürgern, wie dem Hadith über die Verantwortung des Imams zu entnehmen ist.
Zurück zu unserem Thema:
Dieser kurze rechtswissenschaftliche Exkurs verdeutlicht, dass es nicht ausreicht, etwas nicht wörtlich oder ausdrücklich im Koran vorzufinden. Dies ist übrigens kein Alleinstellungsmerkmal des Korans, sondern auch bei anderen Rechtstexten zu beobachten (dazu mehr in einem anderen Blog-Beitrag).
Damit wir Muslime heute in der Lage sind, eine angemessene Haltung zu Themen wie dem Säkularismus oder Liberalismus einzunehmen, ist es unabdingbar, die Realität dieser politischen Philosophien zu verstehen. Sprich: Wer sie versteht, ist am ehesten in der Lage, sich und andere vor dem Unglauben und der Irrleitung dahinter zu schützen. Nur so kann ihre Falschheit und ihr Widerspruch zum Islam richtig eingeordnet werden, und die Gefahr, sie mit islamischen Inhalten zu verwechseln, wird verhindert. Der Grad der notwendigen Beschäftigung hängt von der jeweiligen Person und den Umständen ab. Doch jeder Muslim, der im Westen (über)leben möchte, benötigt zumindest so viel Wissen, wie erforderlich ist, um seinen Iman zu schützen. Denn wir leben nicht in einer vom Islam durchdrungenen Gesellschaft, in der der Staat darum bemüht ist, Allahs Wort zum Höchsten zu erklären. Vielmehr werden wir von Kindheit an mit diesen fremden Überzeugungen konfrontiert.
O die ihr glaubt, bewahrt euch selbst und eure Angehörigen vor einem Feuer, dessen Brennstoff Menschen und Steine sind... (Sure 66, Vers 6)
3 Kommentare
Ich bin beeindruckt! Danke für dieses schöne Wissen! Möge Allah dich belohnen und dir barakah geben! Amin.
Salamu alaikum lieber Bruder,
Ein wirklich gelungener Artikel! Besonders beeindruckt hat mich, wie Du das historische Beispiel des Kalifen Umar (r.a.) nutzt, um zu zeigen, dass Muslime schon immer nützliches Wissen aus anderen Kulturen übernommen haben.
Deine ausgewogene Sichtweise macht deutlich: Es geht nicht um blindes Ablehnen oder Übernehmen “westlicher” Ideen, sondern um ein tiefes Verständnis unserer Lebensrealität, um den Islam bestmöglich praktizieren zu können.
Jazak Allahu khairan für diesen wertvollen Beitrag!
Freue mich auf mehr von Dir.
Ein starker Beitrag